Feder in Sepia, laviert, über Bleistift auf gelblichem Papier.
20,2 × 25,4 cm
(8 × 10 in.).
Rückseitig Skizze eines gotischen Kircheninneren. Dort auch der Namensstempel Lugt 263b und der Sammlerstempel Lugt 307c.
Werkverzeichnis: Rave 70.
[3100]
Carl Brose, Berlin / Karl Alexander Brendel, Buschmühle (wohl 1928 bei Hollstein und Puppel, Berlin, erworben) / Sammlung „GP" / Walter Bauer, Fulda (1961 bei Gerd Rosen, Frankfurt a. M., erworben, seitdem in Familienbesitz)
Guido Josef Kern: Karl Blechen. Sein Leben und seine Werke. Berlin, Bruno Cassirer, 1911, S. 169 (rechte Spalte) / Kunstauktion XL: Sammlung C. Brose, Berlin, und andere Beiträge. Berlin, Hollstein & Puppel, 8.-10.11.1928, Kat.-Nr. 27, Abb. Tf. XI / 37. Auktion: 1. Teil: Kunst und Antiquitäten. Frankfurt a. M., Galerie Gerd Rosen, 11.-13.10.1961, Kat.-Nr. 4, m. Abb.
Die „Gotische Kirchenruine im Walde“ zeigt Blechen als analytischen Zeichner, der Architektur als Denkfigur behandelt. Mit Feder in Sepia über feinem Bleistiftgefüge beschreibt er eine Kirchenruine, die von der Vegetation fast verschlungen wird. Die gotischen Pfeiler ragen aus dem Wald empor, Licht fällt wie ein stilles Fluidum in den Raum, und alles scheint von einer leisen Gleichgültigkeit der Natur überzogen.
Blechen zeichnet hier nicht mehr „die Ruine“ im romantischen Sinne, sondern untersucht den Prozess ihres Aufgehens in der Umwelt. Das Blatt ist kein Andachtsbild, sondern eine Studie über die Auflösung des Kulturellen im Natürlichen – über den Punkt, an dem Architektur zu Landschaft wird. Die Sepialavierung bindet alle Formen in einen Ton von erdiger Geschlossenheit, während die vertikalen Linien der Pfeiler den Rest menschlicher Ordnung behaupten.
In dieser Zeichnung, die zwischen 1825 und 1830 entstanden sein dürfte und schon früh in der Sammlung Brose verzeichnet ist, deutet sich aber auch Blechens zentrales Thema bereits an – das Verhältnis von Bild und Leere. Wie in den späteren Ruinen im Wald oder den Bildstock-Blättern verweigert er der Architektur ihre kultische Funktion und verwandelt sie in reine Form. Die Kirchenruine ist nicht mehr Ort des Glaubens, sondern des Sehens. Der sakrale Raum wird zur Projektionsfläche, in der Blechen die „ikonoklastische Wirkung“ der Leere erprobt.
Besonders faszinierend ist auch die Rückseite des Blattes: Dort hat Blechen eine arkadische Landschaft mit einem Tempel in der Ferne skizziert und verquickt diese mit einer angedeuteten gotischen Ruinenarchitektur. Diese zweite Zeichnung verwandelt das Blatt in ein dialektisches Doppel: hier Schatten, dort Licht; hier das überwachsene Mittelalter, dort die heitere Antike. Zwischen beiden Seiten entfaltet sich Blechens ganze geistige Spannweite, wie sie in seinen theoretischen Reflexionen sichtbar wird: sein Denken in Polaritäten wie Hell und Dunkel, sein Übergang vom romantischen Empfinden zur rationalen Bildarchitektur.
Die „Gotische Kirchenruine im Walde“ ist so kein Stimmungsblatt, sondern ein Versuch über die geistige Tektonik der Welt avant la lettre. In der Linie denkt Blechen Architektur neu – als geistige Form, die vergeht und doch fortlebt. Das macht dieses Blatt zu einem Schlüssel seiner frühen Zeichenkunst: still, konzentriert, von großer gedanklicher Energie. Kilian Heck
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